Was ist ein Waldkindergarten?

Natur- und Waldkindergärten stärken und stabilisieren in besonderer Weise die kindliche Entwicklung. Ein wesentliches Merkmal von Natur- und Waldkindergärten ist der Anspruch eines ganzheitlichen Zugangs - sowohl zum Kind als auch zur Natur.

Der Unterschied gegenüber normalen Kindergärten ist, dass sich "Waldkinder" überwiegend in der Natur aufhalten und vorwiegend mit den Dingen spielen, die sie im Wald bzw. in der Natur vorfinden. Nur bei besonders schlechtem Wetter oder großer Kälte bieten Zelte, Container oder Hütten Unterschlupf.

„Natur sagt nicht, du bist unvollkommen. Sie fragt nicht nach dem Woher und Wohin. Sie nimmt uns auf in ihren Schoß und lässt uns im dialogischen Prozess stark werden an uns selbst“

Miklitz 2015

Die primäre pädagogische Kraft ist die Natur selbst. Darüber hinaus geht es vor allem darum, den Kindern etwas zuzutrauen. Sie dürfen auf Bäume klettern. Auch Schnitzmesser und andere Werkzeuge sind im Waldkindergarten kein Tabu. Durch diese Erfahrungen lernen die Kinder ihre eigenen Grenzen besser kennen und stärken gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein. Die Waldkindergartenzeit fördert zudem in ganz besonderer Weise den sozialen Zusammenhalt und das Verständnis für Regeln (Warmbold 2014).

Geschichte der Waldkindergärten

Ihre Wurzeln hat die Wald- und Naturpädagogik in Schweden. Seit 1892 gibt es dort eine Organisation, die ganzjährig Aktivitäten im naturpädagogischen Bereich für alle Altersstufen anbietet. 

Auch in Dänemark blieb diese pädagogische Entwicklung nicht ohne Wirkung. Mitte der fünfziger Jahre entwickelte sich eine Elterninitiative, die bald den ersten dänischen Waldkindergarten gründete.

In Deutschland entstand 1968 die erste private Wandergruppe in Wiesbaden. 1993 wurde der erste staatlich anerkannte Waldkindergarten nach dänischem Vorbild in Flensburg eröffnet. Heute gibt es mehr als 1500 deutsche Natur- und Waldkindergärten und über 500 Waldkindergartengruppen in traditionellen Kindergärten, sowie Einrichtungen die regelmäßig Waldtage oder Waldwochen durchführen.

Gründe für einen Waldkindergarten

Der Waldkindergarten kann die Basis für ein tiefes Verständnis der Welt schaffen. Kinder erleben die Jahreszeiten im Waldkindergarten unmittelbar: Das wärmende Feuer im Winter, der kühle Bach im Sommer, die eiskalte Luft an einem klaren

Wintermorgen, die duftenden Erdschollen im Frühjahr. Die Natur bietet Sinnesreize in vielfältiger Weise. Diese Eindrücke prägen sich tief in das Gedächtnis der Kinder ein. Jeder Mensch, der in seiner Kindheit viel freie Zeit in der Natur verbringen durfte, wird dies bestätigen können.

Die Natur bietet den vielfältigsten Erfahrungsraum, den es gibt. Die zahlreichen Spielmöglichkeiten, die dem Kind in natürlicher Umgebung zur Verfügung stehen, können durch keine vom Menschen künstlich konzipierte Spiellandschaft nachgeahmt werden (Kerschefski 2017). Das Konzept hinter den naturnahen Kindergärten basiert auf der Erkenntnis, dass sich Kinder in der Natur optimal bewegen, spielen und lernen können.

Kinder lernen mit allen Sinnen: Sie müssen zuerst sehen, riechen, berühren und erleben, bevor sie Erklärungen aufnehmen und verstehen können. Kinder im Naturraum haben den Anspruch und die Möglichkeiten, tiefer in einen Gegenstand einzudringen, grundlegendere Erkenntnisse über ein Sachgebiet, einen Gegenstand oder komplexe Vorgänge zu gewinnen. Lernen im Waldkindergarten heißt forschendes Lernen und über das Erlebte Zusammenhänge verstehen.

Die Möglichkeit, sich im Wald als Entdecker, Sammler, Hüttenbauer usw. zu betätigen kommt einem im Menschen (in seiner Menschheitsgeschichte) tief verwurzelten Bedürfnis entgegen, das heute kaum noch befriedigt werden kann. Etwas “bewegen können” - kein Plastikteil, sondern etwas “echt” Schweres - diese lebenspraktischen Erfahrungen schaffen die Basis für das spätere “Zupacken” können in anderen lebenspraktischen Bereichen (Miklitz 2011).

Die Natur ist der ideale Bewegungsraum für Kinder. Bewegung wird dabei nicht nur als Ausdruck von kindlicher Lebensfreude gesehen, sondern als Basis der Gesamtentwicklung. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, wie eng die motorische und die geistige Entwicklung miteinander verknüpft sind. Durch die Bewegungserfahrung in der Natur lernen die Kinder nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sich selbst – ganz individuell und als Teil des großen Ganzen – intensiv wahrzunehmen.

 

Motorische Entwicklung

Die Natur bietet jedem Kind die passenden Möglichkeiten, um seine motorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Körpererfahrungen sind die Grundlage für späteres Lernen, körperliche Bewegung ist Ausdruck innerer Bewegtheit. Kinder, die in ihrer Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt sind, trauen sich weniger zu. Kinder, die in ihrer Kindheit auf Bäume klettern konnten und gelernt haben hinzufallen ohne sich zu verletzen, gewinnen Sicherheit und Selbstbewusstsein. Das Erfahren von Grenzerlebnissen im körperlichen Bereich schafft ein stabiles Fundament, um auch mit psychischen Belastungs-und Stresssituationen besser umgehen zu können.

Sprachkompetenz

Weil in den meisten Waldkindergärten auf konventionelles Spielzeug verzichtet wird, müssen die Kinder sich viel häufiger über die Bedeutung und Funktion von Gegenständen sowie über das Spielgeschehen austauschen und untereinander verständigen. Die Spiele der Kinder sind häufig Rollenspiele, in denen sie sich austauschen und einigen müssen. Das Sprechen ist hier das wichtigste Spielelement. Da die Kinder durch Sprechen auch Erfolge miteinander erzielen, entwickeln sie eine regelrechte Lust an der Sprache. Das äußert sich oft in wilden Sprachspielen und Wortschöpfungen.

Gesundheit

Mit seinem Ansatz ist der Waldkindergarten eine Antwort auf die stark veränderte Lebenssituation von Kindern, in der durch das zunehmend eingeschränkte spontane Toben, Turnen und Spiel in der freien Natur wichtige Kompetenzen verloren gehen. Der Waldkindergarten gibt den Kindern, zumindest für den Vormittag, den natürlichen Spielraum wieder zurück. Hier lernen sie (wieder), sich natürlich zu bewegen. Eine bessere Herausforderung als einen Wald kann es dafür kaum geben. Die Körpererfahrungen stärken Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Koordination und Gleichgewicht.

Wind und Wetter ausgesetzt zu sein, stärkt das Immunsystem. Die natürliche Umwelt, das Eingebunden sein in die Natur und das Erleben der wechselseitigen Abhängigkeiten, bewirken eine ganzheitliche Harmonisierung. Und wie wichtig ist die getankte Menge von Sonnenlicht und frischer Luft für seelisches und körperliches Wohlbefinden!

Motivation

Die Natur stellt Aufgaben und setzt konsequente und nachvollziehbare Grenzen. Wenn ich mich auf einem Baum nicht gut festhalte, falle ich herunter und tue mir weh. Wenn ich auf einen Berg hinauf will, muss ich mich anstrengen. Kein Mensch kann so unvoreingenommen und konsequent zum Handeln auffordern. Die häufige Auseinandersetzung mit diesen strengen Gesetzen der Natur fördert bei den Kindern ein gesundes Empfinden für die eigene Stellung, Respekt und Demut vor dem Unvermeidlichen, aber auch den Ehrgeiz und die Fähigkeit, die eigenen Grenzen an Kraft und Wissen auszuweiten.

Ruhe und Stille

Der Wald lädt ein zum Innehalten und Zuhören. Stille ist in der heutigen Zeit ungewohnt, aber von unschätzbarem Wert. Das genaue Hinhören, die Möglichkeit, differenzierteste Laute wahrzunehmen, das fördert die innere Ruhe, das Wohlbefinden und die Konzentrationsfähigkeit.

Stille führt zum kreativen und produktiven Umgang mit den Gedanken, Erfahrungen, Wahrnehmungen, denen erst die Stille Raum gibt; dazu gehört die wichtige Erfahrung: ich bin ein dialogisches Wesen - ich habe eine innere Stimme, mit der ich Zwiesprache halten kann. Letztlich enthalten wir Kindern, die Stille zu wenig erfahren, wichtige Wahrnehmungsmöglichkeiten vor, die die Grundlage, ja erst den Zugang bilden für das philosophische und/oder religiöse Denken und Empfinden, für das Erfassen und Erfahren einer spirituellen Idee (Miklitz 2011).

Umweltschutz

Unsere Erde braucht engagierte Umwelt- und Naturschützer, die sich auch in der Zukunft für den Erhalt unserer Lebensgrundlage einsetzen. Die reine Wissensvermittlung führt jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, dass sich Menschen ökologisch sinnvoll verhalten. Umweltbildung, die bereits im Kindesalter vermittelt wird, hilft, den Nachhaltigkeitsgedanken in der Bevölkerung zu verankern.

Sowohl durch pädagogische Begleitung als auch durch Erlebnisse in der Natur werden die Kinder im Waldkindergarten für den Umweltschutz sensibilisiert. Die Umweltbildung vermittelt wichtige Grundlagen und Werte. So entwickeln die Kinder einen positiven Bezug zu Natur und Umwelt, der sie auch im Erwachsenenalter noch prägt und zu nachhaltigem Handeln anregt (Knauer 1995).

Schulvorbereitung

Lernen ist integraler Bestandteil des täglichen Tuns des Kindes, somit ist jeder Tag im Waldkindergarten Vorbereitung auf die Schule. Durch die situationsorientierte Arbeit können die Kinder selbstwirksam das Lerngeschehen mitbestimmen, die ruhige Umgebung bietet die Möglichkeit sich intensiv mit einzelnen Themen, Fragestellungen, Materialien oder Angeboten auseinanderzusetzen. Zudem existieren auch in einem Waldkindergarten Regeln, an die sich die Kinder zu halten haben.

Laut einer Studie von Dr. phil. Häfner schneiden Waldkinder in der Schulfähigkeit (Konzentration, Motivation, Kommunikation etc.) genauso gut ab, wie Kinder aus Regelkindergärten: "Grundsätzlich werden die Kinder, die als vorschulische Einrichtung einen Waldkindergarten besucht haben, als besser auf die Schule vorbereitet angesehen als die Kinder aus dem Regelkindergarten. Im Durchschnitt arbeiten die Waldkindergartenkinder im Unterricht besser mit, sind motivierter und konzentrierter in der Schule und sie verfügen über ein höheres Maß an sozialen Kompetenzen, die sie im Klassenverband anwenden können. Des Weiteren schneiden sie im musischen und im körperlichen Bereich besser ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler." (Häfner 2002)

Der Naturraum im Waldkindergarten hinterlässt biographische Spuren und wirkt als eine Art dritter Erzieher. Aus dem weitgehenden Entzug der menschlichen Beeinflussung des Waldes wird den Kindern ein spannendes, nicht in exakter Weise reproduzierbares und individuell interpretierbares Feld geöffnet, welches Fähigkeiten wie Fantasie, Kommunikation, Aufmerksamkeit, Kreativität, Anpassungs- und Einfühlungsvermögen fördert (Miklitz 2011).